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Das Versprechen von Kalesija

“Das Versprechen von Kalesija” – Artikel aus dem Zuger Stadtmagazin, Rolf Elsener

Der Bürgermeister bleibt ruhig, die Evakuierten weinen ohnmächtig und der Kranführer aus Zug schüttelt den Kopf. Reportage über die Unwetter-Katastrophe in Kalesija, der bosnischen Partnerstadt von Zug.

Es ist sein grosser Auftritt. 80 Frauen und Männer scharen sich um ihn. Alte Menschen, Familien. Sie haben kein Haus mehr. Ihren ganzen Besitz tragen sie am Körper. In der Kaserne der Militärbasis von Tuzla haben sie ein provisorisches Dach über dem Kopf erhalten, mehr nicht. Hier gibt Huso Dedovic ein Versprechen ab: «Wir können nicht für alle sorgen. Aber wir tun, was wir können, um einigen von euch zu helfen.»

Es ist Mai und Huso Dedovic ist zusammen mit alt Stadtschreiber Turi Cantieni für den Verein Zug-Kalesija (siehe Box) nach Bosnien gereist. Huso Dedovic wurde in Kalesija geboren, hat dann wie seine acht Geschwister sein Glück im Ausland gesucht und ist vor dreissig Jahren als Kranführer in Zug gelandet. Halb Osteuropa versank im Mai dieses Jahres nach langen, starken Regenfällen im Wasser. 420 Erdrutsche gab es alleine auf dem Gemeindegebiet von Kalesija, einer Gemeinde mit 30 000 Einwohnern auf einer Fläche so gross wie der Kanton Zug.

20 Häuser sind zerstört, einige von ihnen verschwanden komplett im Schlamm, 500 Häuser sind beschädigt. Die Gemeinde evakuierte fast tausend Menschen. Wer keine Bekannten oder Verwandten hatte, bei denen er Unterschlupf fand, landete in der Militärkaserne von Tuzla.

Das Haus ist einfach verschwunden
Hajrudin Ikanovic sitzt in einem fensterlosen Raum in der Militärkaserne, ein Stapel Kleider auf dem Bett, ein Nikolaus aus Stoff als einzige Wanddekoration. Der 65-jährige Bauer lebte mit seiner Frau und einem kleinen Pferd in seinem Haus, bis es ein Erdrutsch mitriss. Sein Blick ist wach, die Finger zittrig und gelb von den vielen Zigaretten. «Mein Haus ist einfach verschwunden. Man sieht es nicht mehr, es ist irgendwo unter der Erde.» Das Grundstück ist nun Sperrgebiet, Geld für ein neues oder eine Versicherung hat er nicht. Wie es weitergeht? Der alte Mann saugt den letzten Rest aus seiner Zigarette und zuckt mit den Schultern. «Das kann uns niemand sagen. Von der Gemeinde habe ich nichts mehr gehört, seit ich hier bin.»

Die Zuger Delegation fährt zum Gemeindehaus. Hier empfängt sie Bürgermeister Rasim Omerovic, ein Mann mit ruhiger Stimme und melancholischen Augen. Turi Cantieni und Huso Dedovic, der Kranführer aus Zug, sind Ehrengäste am Sitzungstisch, auf Augenhöhe mit dem Bürgermeister. Der Verein Zug-Kalesija hat einen Lastwagen voller Hilfsgüter mitgebracht, die er mit der Zuger Bevölkerung gesammelt hat. Und 20 000 Franken Soforthilfe, die Zug als Partnerstadt gesprochen hat. Der Bürgermeister verweist auf die Notlage und möchte das Geld so schnell wie möglich auf dem Konto der Gemeinde haben. Die Zuger Delegation entscheidet sich gegen eine Direktauszahlung.

Der halbe Politapparat der Gemeinde sitzt in gepolsterten Ledersesseln an diesem Tisch im Rathaus: der Präsident der regierenden Partei, der Sekretär des Bürgermeisters, der Chef der Verwaltung. Müde schauen sie aus. Die Gemeinde muss Strassen reparieren, die Trinkwasser-Versorgung wieder aufbauen, die Obdachlosen betreuen und mit Veterinären die Seuchengefahr dämmen, die von Tierkadavern in den Rutschgebieten ausgeht. Ein Beamter hat einen Zettel dabei und erzählt von zwölf Notwohnungen, die nach dem Krieg für Flüchtlinge gebaut worden sind, heute aber nicht mehr bewohnbar sind. Diese Wohnungen will er Huso Dedovic und Turi Cantieni zeigen.

Sparsam, bescheiden und mächtig
Rund 1200 Menschen aus Kalesija leben im Kanton Zug, die meisten wie Huso Dedovic sparsam und bescheiden. In ihrer Heimat Bosnien dagegen haben sie Macht und Einfluss– und vor allem Geld. Huso Dedovic besitzt mit seinen zwei Söhnen und deren Familien zwei Häuser und Industrieland in Bosnien. Dort ist ein Schweizer Büezer-Lohn von 5000 Franken ein fürstliches Gehalt, denn wer in Bosnien Glück und Arbeit hat, verdient rund 350 Franken pro Monat. Der Sekretär des Bürgermeisters führt uns an einen Ort, der aussieht wie eine Ferienhaus-Siedlung: bunte Häuschen in Reih und Glied, rundum nur Wiese. Doch der erste Eindruck täuscht. Die Wohnungen sind nur knapp 40 Quadratmeter gross, Fenster samt Rahmen fehlen, Wasserhähne, Duschbrausen sind abgerissen, in den Räumen liegen Dreck, alte Schuhe und löchrige Kleider. Eine holländische Hilfsorganisation errichtete nach dem Bosnien-Krieg vor zwanzig Jahren diese Häuser für Muslime, die vertrieben worden waren. Die Flüchtlinge sind längst ausgezogen und haben mitgenommen, was zu verkaufen oder zu verwenden war. Seither hat sich niemand mehr um diese Wohnungen gekümmert.

Huso Dedovic und Turi Cantieni sehen hier die Chance, das Versprechen einzulösen. Noch am selben Tag starten sie ein Offertverfahren und finden einen lokalen Baumeister, der zwölf Wohnungen renoviert für circa 5000 Franken pro Wohnung. Der Verein Zug-Kalesija hat das Geld bei Firmen – zum Beispiel der Roche in Rotkreuz – und Privaten gesammelt.

Schweben zwischen zwei Identitäten
Im August fährt Huso Dedovic ein weiteres Mal nach Kalesija, den Ort, der ihm Heimat ist und ihn doch dauernd irritiert. Er verlangt von Behörden und Arbeitern Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und Tempo. Sein Auto fährt er nie auch nur einen Kilometer pro Stunde über der Limite. Er schwebt zwischen zwei Identitäten, in der Schweiz der Bosnier, in Bosnien der Schweizer. Die Wohnungen sind nun frisch gestrichen, sie haben Fenster, einen Holzboden, eine Dusche und ein WC. Naza und Meho Mujanovic haben mit ihrem Sohn, dessen Frau und der dreijährigen Enkelin eine Wohnung bezogen. Küche, Stube, Zimmer, Bad auf 40 Quadratmetern. Naza weint. Sie und ihre Familie wurden erst vor einer Woche aus ihrem Haus evakuiert, das sie nach den Unwettern noch bewohnen konnten. Weil sich jetzt aber auch bei ihnen der Boden bewegt und die Wände zu reissen beginnen, mussten sie raus. «Es ist zu eng hier für fünf Personen. Wenn uns die Gemeinde bis Dezember keine bessere Lösung anbietet, übernachten wir vor dem Rathaus.»

Der Chef der Gemeindeverwaltung ist gekommen. Er schaut sich die frisch renovierten Wohnungen an und hat eine gute Nachricht dabei. Fast alle 80 Personen haben die Militärbasis verlassen und eine Notwohnung beziehen können. Wie lange es daure, bis die Leute wieder ein festes Zuhause haben, bis sie irgendwo wieder ein Haus oder eine Wohnung bauen können, das wisse man nicht, sagt er. «Das liegt nicht in unserer Macht. Die Gemeinde hat kein Geld. Wir müssen auf den Staat und auf internationale Hilfe hoffen», sagt er in ruhigem Ton. Er hat sich offenbar an das Gefühl der Ohnmacht gewöhnt.

Nijaz und Suvada Suljic fahren mit einem klapprigen VW-Bus heran, sie kommen mit ihrem ganzen Hab und Gut – zwei Betten und ein paar Kleidern – von der Militärbasis. Auch ihr Haus liegt unter der Erde, zusammen mit der Agrarfläche, die jedes Jahr Tonnen von Zwetschgen zum Verkauf und genügend Gemüse für den Eigenbedarf sicherte. Jetzt ziehen sie in die kleine Wohnung, zusammen mit ihrem 22-jährigen Sohn Dino, der weder ein eigenes Zimmer noch ein Bett haben wird. Er schläft auf dem Sofa, sofern sie denn eines erhalten. Nijaz und Suvada sind trotzdem guter Laune. «Wir sind glücklich, dass wir hier einziehen können», sagt Nijaz. Er freue sich, eine eigene Toilette zu haben und sich ohne Begleitung eines Soldaten bewegen zu dürfen. «Auf der Militärbasis haben uns viele Leute Hilfe versprochen. Die Leute aus Zug sind bis heute die einzigen, die Wort gehalten haben.»

Diesen Satz murmelt Huso Dedovic auf seiner Heimfahrt nach Zug mehrmals leise vor sich hin.

 

Quelle: Artikel aus dem Stadtmagazin Nr. 10 (Seite 23-27).

Stadtmagazin Nr. 10 als PDF (Artikel Seite 23-27)